Rezension: Gesellschaftliche Zwänge, Emanzipation und Transmännlichkeit

26.11.2014 10:52

Beobachtungen: Gesellschaftliche Zwänge, Emanzipation und Transmännlichkeit

Rose Tremains Gesellschaftsportrait „Die Verwandlung der Mary Ward

 

Rose Tremain: Die Verwandlung der Mary Ward. Zusammen mit dem Klappentext deutet der Buchtitel des 2014 erneut verlegten Romans darauf hin, dass die (soweit bekannt: Nicht-Trans-)Bestsellerautorin einen Trans-Roman geschrieben hat. Unter dem Titel „Sacred Land“ war das Buch bereits 1992 im englischen Original erschienen, in Queerer Forschung findet es in Hinblick auf die Repräsentation Queerer Männlichkeit Anerkennung.

 

Der deutsche Buchtitel täuscht in mehrerer Hinsicht: Denn Mary Ward selbst versteht sich spätestens seit ihrem/seinem sechsten Lebensjahr, und hier setzt die Erzählung an, als Martin. Erste Zeugin dieser Selbsterkenntnis ist Martins Perlhuhn Marguerite, das Martins zunehmend gewalttätiger und alkoholisierter Vater später töten wird. Martins Geschichte ist es, die der Roman erzählt. Zudem – und das ist die zweite Täuschung des Buchtitels – ist dessen Geschichte eine von vielen, die Rose Tremain hier erzählt. Darin liegt durchaus eine Stärke des Buches: Tremain zeichnet anhand mehrerer Charaktere ein kleinstädtisch-weißes Gesellschaftsportrait Großbritanniens seit den 1950er Jahren. Sie liefert Einblicke in Lebenskonzepte zwischen gesellschaftlichen Zwängen, Resignation, Emanzipation und Auflehnung. Martin Ward wird nicht zum „Anderen“ stilisiert, sondern als eine von mehreren Personen und Männlichkeiten, die darum kämpfen, zu überleben, Zwängen zu entfliehen und ein selbstgewähltes Leben zu führen.

 

Seine Überzeugung, dass eine Zukunft als Martin auf ihn wartet, verleiht Martin die Kraft, seinem einengenden und zunehmend gewaltvollen Herkunftsumfeld zu entfliehen. Er findet UnterstützerInnen, zieht in eine Großstadt, lebt und zeigt sich mehr und mehr als Martin, der er ist und sein will. Dem Medizinsystem, das auf geschlechtliche Vereindeutigung aus ist – im Sinne einer zu vollendenden Männlichkeit –, wird er mit einer guten Portion Skepsis, Einfallsreichtum und Widerständigkeit begegnen. Neben Martins Leben erzählt Tremain die Geschichten weiterer Personen aus seiner Heimatstadt. Da wäre etwa seine Mutter, Estelle, die dem Leben mit ihrem alkoholkranken und zunehmend gewalttätigen Ehemann Sonny durch Aufenthalte in einer psychiatrischen Einrichtung zu entfliehen versucht. Oder Walter, dessen Familientradition vorsieht, dass er die Metzgerei seiner Eltern übernimmt – der aber am liebsten mit seinem Onkel Pete Country Music hört und vom Auswandern in die USA träumt. Oder der Zahnarzt Gilbert, der mit seiner Mutter zusammen in einem Haus lebt, das immer näher an die Klippen rückt, und der eine Affäre mit Walter beginnt ... Die meisten Biografien sind bedrückend über weite Strecken, da die Protagonist_innen eingezwängt sind in ein Leben und Umfeld, das ihnen nicht behagt; und einige davon werden ihren Wünschen und Träumen folgen, sehr radikal oder ein Stückweit, in kleinen Schritten.

 

Politische Schwachstellen des Buches finden sich in vereinzelten Sätzen oder Halbsätzen, die deshalb so ärgerlich sind, weil es ein Leichtes gewesen wäre, sie auszuräumen. Da ist das Klischee vom lispelnden schwulen Zahnarzt, der bei sämtlichen (!) männlichen Patienten die Behandlung länger ausdehnt als nötig; da sind Andeutungen einer sexualisierten Blickweise Martins auf Frauen und von sexueller Übergriffigkeit; da sind rassistische und kolonialistische Denkmuster einzelner Protagonisten. Manches davon mag im Sinne eines realistischen Gesellschaftsportraits Sinn machen. Das Wohlwollen, mit dem Rose Tremain ihre Figuren zeichnet – und das eine große Stärke des Buches ist –, droht hier jedoch bisweilen in eine Verharmlosung gewaltvoller Realitäten zu kippen.

 

Tremains Erzählweise ist detailliert, ihre Charaktere sind originell, es gelingt ihr offenbar mühelos, vielschichtige und sich entwickelnde Biografien zu erzählen. Was der Roman nur bedingt bietet und ermöglicht, sind Identifikation und emotionales Berührtwerden. Es bleibt ein distanziertes Verhältnis zwischen den Leser_innen und den Protagonist_innen des Buches: Es ist ein Blick „von außen“ – ein beobachtender Blick, kein identifikatorischer –, der gleichwohl ohne Pathologisierungen und Voyerismus auskommt.

 

Julia Roßhart für FEMBooks

 

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