Rezension zu: Dominique Grisard, Ulle Jäger, Tomke König (Hrsg.): Verschieden sein: Nachdenken über Geschlecht und Differenz

12.02.2013 17:20
Als schwerhörig geborene, später bisexuell liebende Person war das Anderssein für Andrea Maihofer von Anfang an präsent. Sie machte die Erfahrung, dass die Behandlung als Gleiche nur dazu führte, dass ihre Besonderheiten nicht erkannt wurden, was wiederum erst Ausschlüsse aus der Gemeinschaft Heterosexueller und Nicht-Behinderter produzierte. Nur durch die Anerkennung ihrer Andersartigkeit und die Rücksichtnahme auf diese war für sie gleichberechtigte Teilnahme und Kommunikation erst möglich.

Diese biografischen Erfahrungen Maihofers führten sie - die in Philosophie promovierte und seit 2001 Professorin für Geschlechterforschung ist - zur Entwicklung ihrer Theorie der Geschlechterdifferenz.

Andrea Maihofer fragt, wie es möglich sein kann, Gleichberechtigung in einer bestehenden Differenz zu leben. Ihre Forderung nach Gleichberechtigung geht dabei über die Forderung nach Gleichheit hinaus. Denn die Forderung nach Gleichheit birgt die Gefahr, dass bestehende Unterschiede lediglich verdeckt und verleugnet werden und Gleichheit nur über Anpassung an die (männliche, heterosexuelle und weiße) Norm erreicht werden kann.
 
"Wirkliche Gleichberechtigung entsteht hier folglich erst dann, wenn Personen auch in ihrem 'Andersein' als Gleiche/gleichberechtigt behandelt werden." (Maihofer in Grisard/Jäger/Tomke, S. 28)

Bezogen auf die Gender Forschung bedeutet dies, dass aus Sicht Maihofers das Gleichheitspostulat à la Simone de Beauvoir zu kurz greift, wenn es darum geht, Gleichberechtigung für Frauen einzufordern. Andererseits kritisiert Maihofer, dass die Frauenbewegung und -forschung den Differenzbegriff ausschließlich auf Geschlechterdifferenz verengt und damit die Unterschiede zwischen Frauen aus dem Blick verloren hat. Nicht die Gleichheit aller Menschen sollte das gesellschaftliche Ziel sein, sondern dass jedes Individuum 'ohne Angst verschieden sein' sein kann.

Andrea Maihofer bringt damit ein völlig neues Element in (feministische) Differenzdiskussionen ein. Der verwendete Begriff der 'Angst' stellt klar, dass Anderssein aufgrund von Geschlecht, Körperlichkeit oder Begehren immer Emotionen auf Seiten der Ausgegrenzten erzeugt. Diskriminierung und Hierarchisierung sind keine bloßen abstrakten Platzanweiser, sondern erzeugen Angst vor Zurückweisung, Ausgeschlossensein oder gar Gewalt von Seiten der dominanten Gruppe.

Differenz wird bei Maihofer allerdings nie als unumstößliche biologische Determinante gesehen. Vielmehr wird diese immer auch gesellschaftlich erzeugt oder besser gesagt 'reproduziert', denn Menschen sind in keinem Stadium ihrer Entwicklung geschlechtsneutrale Wesen. Sie sind immer schon geschlechtliche Individuen, deren Geschlechtlichkeit stets aufs Neue reproduziert wird.

"Geschlechterverhältnisse reproduzieren sich nicht nur in gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch in den Individuen."
(Maihofer in Grisard/Jäger/Tomke, S. 39).

Andrea Maihofers Differenztheorie und ihre Utopie des 'ohne Angst verschieden sein' wird in vorliegendem Sammelband einer kritischen Bestandsaufnahme aus unterschiedlichen disziplinären und thematischen Perspektiven unterzogen. Von der Urgeschichte bis zur kritischen Gesellschaftstheorie des Geschlechts, von trans-queeren Existensweisen bis zu individuell-neoliberalen Selbstkonzepten junger Erwachsener, von der Neurowissenschaft bis zur Differenzproblematik in Elternschaft wird die Anwendbarkeit von Maihofers Theorie durchaus gespalten bewertet. Es bleibt genug Raum und Notwendigkeit für ihre wissenschaftliche Weiterentwicklung und praktische Erprobung.

Doreen Heide, FEMBooks

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