Rezension zu: Sarah Marrs: Stadtnomadin. Wilde Tage in Chicago, lange Nächte in Berlin

12.11.2013 21:24

Wie performe ich einen „professionell besoffenen“ Punkmusikauftritt? Wie organisiere ich das Leben meiner kaufsüchtigen und Ehemänner verschleißenden Mutter? Wie reagiere ich souverän, wenn ich beim Sex mit einem Mann unverhofft von dessen Freundin überrascht werde? Wie schmuggele ich die Asche des jüdischen väterlichen Freundes aus den USA nach Deutschland und verstreue sie unerlaubterweise auf dem Berliner jüdischen Friedhof?

Diese und andere kleine Episoden mit Lehrcharakter aus Sarah Marrs bewegtem Leben als Künstlerin und Musikerin in Berlin einerseits und Familienmanagerin in Chicago andererseits enthält Stadtnomadin.

Im April 1989 zog Sarah Marrs nach Westberlin. Damals war sie 24 und kam frisch von der Kunsthochschule. Nach dem Mauerfall siedelte sie nach Ostberlin über und war recht bald in die Berliner Kunst- und Musikszene involviert.

Die versprochenen Schilderungen aus dieser Berliner Zeit sind jedoch spärlich. Obwohl ich etwas mehr über das Berlin der Wende- und Nachwendezeit wissen wollte, dreht sich der überwiegende Teil von Stadtnomadin um Sarah Marrs’ Chicagoer Zeit nach ihrem Leben in Berlin. So erfahre ich nun beispielsweise, dass es in ihrer amerikanischen Familie zwar viel Geld für teure Bekleidung, aber keines für genug Schlafplätze und Privatsphäre gibt. Sarah Marrs musste schon früh die männliche Rolle für ihren weiblichen Familienclan übernehmen. Oft wird sie aufgrund ihrer Größe und tiefen Stimme auch für einen Mann oder eine Trans*person gehalten. Sarah bietet zudem Einblicke in Sinn und Dramatik amerikanischer Fernseh-Shows, kämpft gegen die Okkupation ihrer Hinterhauswohnung durch Stadttauben und bekommt Ekelanfälle bei Sven-dem-Rockstar in Minnesota.

Wenn sie dann im Kapitel bitterfeld 1992: kunst. was soll das zurück reist in die Zeit Anfang der 90er Jahre, so passierte es mir, dass aus der Perspektive der US-Amerikanerin das einstige zutiefst Vertraute der ostdeutschen Mentalität und Lebenswirklichkeit plötzlich seltsamer und fremdartiger auf mich wirkte als der nie gelebte American Way of Life.

Der Alltag in Chicago und ihre sie ständig beanspruchende Mutter machen Sarah krank. Es  zieht sie zurück nach Berlin und die letzten Kapitel des Buches erzählen von ihrer Rückkehr. Ihre Liebe zu Berlin ist dabei von einer Aufrichtigkeit, wie sie wohl nur US-Amerikaner*innen dieser Stadt entgegen bringen können. Oder wer von den in Berlin Geborenen würde den Wunsch hegen, ein Wir lieben Lebensmittel-T-Shirt der angestammten Edeka-Filiale tragen zu wollen?

Sarah Marrs liebt vor allem das alte Ostberlin, nicht das auf Hochglanz polierte Berlin-Mitte der heutigen Zeit. Sie sehnt sich nach dem Grau und der Trostlosigkeit der Ostberliner Straßen, was wohl nur nachvollziehen kann, wer einmal längere Zeit im alten Osten gelebt hat.

Aber die Stadt hat sich geändert seit den 90er Jahren und so erzählen die letzten Kapitel von Stadtnomadin auch eine Geschichte des Vermissens, ohne dass jedoch ausreichend beschrieben wird, was genau vermisst wird. Abgesehen von dem bereits erwähnten bitterfeld-Kapitel  gibt es keine weiteren Erzählungen aus den 90er Jahren, so dass das Buch nicht emotional greifbar werden lässt, was genau Sarah Marrs so in Berlin hält und was das Glückverheißende dieser Stadt für sie ist.

Stattdessen lerne ich durch Sarah Marrs auch im Berlin der Jetzt-Zeit jede Menge skurriler Gestalten kennen, denn Sarah hat hier wie dort über den Ozean ein Herz und Auge für alle Arten gesellschaftlicher Drop-outs, die in nahezu allen ihren Kurzgeschichten vorkommen. Dabei fließen in jeder erdenklichen Situation Mengen diverser Alkoholika, als ob es keine anderen Getränke auf der Welt gäbe.

Im Gegensatz zu manch anderen Künstlerinnen zeigt Sarah Marrs dabei auch viel Verantwortung für ihre Familie und ältere Mitmenschen. Es scheint eine deutsche Spezialität und Erbe der 68er Zeit zu sein, dass jüngere Generationen sich permanent von den Generationen vor ihnen distanzieren müssen. Und in der Tat gibt es im amerikanischen Künstler*innen-Umfeld von Sarah Marrs keine Mentalitätsunterschiede zwischen den Generationen. Die „Alten“ trinken, rauchen und arbeiten genauso wie die Jüngeren, sind genauso ausgeflippt oder sogar noch verrückter. Diese und andere kulturelle Unterschiede beleuchtet Sarah Marrs in ihrer Rolle als Kulturbotschafterin für amerikanische Lebensart.

Immer wieder inspirierend fand ich Sarahs stets kreativen und direkten Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens und den Macken der anderen. Hier agiert keine Frau, die sich behutsam und überlegt im Hintergrund hält. Sarah rumpelt sich durch ihr chaotisches Leben, rastet dabei gern auch mal aus und schlägt um sich wie ein Kerl, wenn ihr etwas stinkt. Peinlichkeiten nimmt sie mit Humor, anstatt sich schamvoll zu verkriechen. Das ist erfrischend und empowernd, wenngleich nicht unbedingt immer geeignet, Sarahs Existenz zu sichern.

Auch wenn man über Sarah Marrs’ Berliner Leben in den 90er Jahren wenig erfährt, ist Stadtnomadin aus genau diesen Gründen lesens- und empfehlenswert. Aber Achtung: das Ende kommt plötzlich und unvermittelt. Sarah Marrs, immer direkt und unverstellt, macht die Tür zu ihrem Leben im Laufe des Buches weit auf - und schlägt sie am Ende ohne Vorwarnung von einer Seite zur nächsten zu. Tschüss! Genug zugeschaut! Wer Sarah Marrs im Laufe des Buches etwas näher kennen lernen durfte, wird sich darüber aber nicht allzu sehr wundern.

Doreen Heide, FEMBooks


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