Rezension zu Anna Schilasky: Die Geschichte der Elster

02.08.2015 17:23

"Die Geschichte der Elster" - queerer Nachwenderoman im postdramatischen
Erzählstil von Anna Schilasky

"Und warum bist Du dann verliebt in mich?", hatte Smilla unverhohlen gefragt. Sie hatten sich dann eine ganze Weile gegenüber gesessen und angesehen. Schließlich sagte Smilla: ich halte das nicht mehr aus. Sie beugte sich über den Tisch und küsste Marie auf die Nasenspitze.

Die Geschichte der Elster von Anna Schilasky ist ein wertvolles Buch, das liebevolle Einblicke in die Beziehungen zweier Frauenpaare mit treffenden Beschreibungen eines sich zur Diktatur wandelnden Umfelds kombiniert.
Der innere Wandel der Protagonistin Miriam breitet sich aus zu einer Katastrophe, die Straßen und Häuser zum Einsturz bringen lässt.
Zuweilen charmant, gewitzt, mit einem Blick für die kleinen Dinge, beschreibt Anna Schieasky, wie Buchstaben aus ihren Büchern fallen.

Es sind diese Stellen, an denen die Autorin mit sprachlicher Brillianz und ungewöhnlichen Einfällen überzeugen kann.
Miriam verwandelt sich im Jahr 2014 zu einer Elster, die in die Vergangenheit reisen kann und sich selbst dabei zusieht, wie sie ihre Tochter Lina, später der transitionierte Sohn Valentin, aufzieht. Die Elster überbringt dem im Erdgeschoss lebenden lesbischen Paar Marie und Smilla das Buch „Das Ende der Geschichte“. In diesem lesen sie über Miriam und eine Frau, in die sie sich verliebt und mit der sie sich ein Buch vorliest.
Die Lebensrealitäten derer, die in den Büchern vor kommen, rücken immer näher zusammen.
Es findet eine rätselhafte Verquickung der zwei Zeitebenen statt.
Hier könnte eine sprachlichen Differenzierung zwischen den Modi des Buch Lesens und Buch Schreibens dem Verständnis der kniffligen Struktur des Romans gegenüber förderlich sein.
Trotz des rasanten Erzählgestus findet eine namentliche Benennung der Protagonistin recht spät statt. Auch die Wahrnehmung, das die Narrative über die beiden Frauenpaare, welche nicht explizit direkt charakterisiert werden, zusehends verschmelzen, verweist auf einen Fokus, der weniger auf einem Nachfühl-Effekt, als auf der Aufdeckung der Handlungs- und Erzählprozesse basiert.

Wieso verfallen die Menschen im Arbeitslager in eine Wachsstarre?
Was hat es mit den Brotketten auf sich?
Die Autorin scheut sich nicht, ihr Publikum bei offenen Fragen zu belassen und regt zum phantasieren an.
Insgesamt ein sehr empfehlenswertes Buch für kluge und forschende Leser_innen mit Freude am magischen Realismus und Interesse an fiktiven Nachwende-Szenarien.

Rezensiert von Paul Kalt

Das Buch kann hier für 10,00 € bestellt werden!


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