Rezension zu Brigitte Bargetz: "Ambivalenzen des Alltags. Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen"

24.08.2018 19:27

Machtkritik vom Alltag aus - eine Rezension von Doris Allhutter

Wie werden gesellschaftliche Verhältnisse alltäglich angeeignet? Wie ist der Alltag in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden? Wie kann eine Kritik und Veränderung alltäglicher Praktiken als gesellschaftspolitische Intervention und Transformation politischer Verhältnisse verstanden werden? Im Zentrum von Brigitte Bargetz‘ Auseinandersetzung mit dem Politischen stehen die „wirklichen Menschen“ und ihre Alltagspraxen. Ambivalenzen des Alltags denkt Politik über den Staat hinaus und macht Alltag als kritisches wissenschaftliches Konzept nutzbar und Politik damit in ihrer Handlungsdimension erfassbar. Ein alltagstheoretisches Verständnis des Politischen geht davon aus, „dass kapitalistische Politik (…) den Alltag für (…) ihren Fortbestand benötig[t]“ (208) und reduziert diese „nicht auf subjekt- und körperlose unveränderliche Strukturen“ (192). Bargetz entwirft in ihrem Buch eine politische Theorie des Alltags und eröffnet mit ihr neue Perspektiven für eine kritische Gesellschaftstheorie, die sich gegen vergeschlechtlichte, rassistische und nationalistische Herrschaftsverhältnisse richtet.

Anhand einer Kartografie des Politischen (Kap. 2) charakterisiert die Autorin unterschiedliche Ansätze (Beck, Greven, Arendt, Zerilli, Mouffe, Rancière) und ihre Potenziale für ein Denken des Politischen. Deren Geschlechtsblindheit stellt Bargetz die feministische Kritik an der Dichotomie öffentlich-privat entgegen. Diese setzt fortwährend eine Trennung zwischen der öffentlichen Sphäre der Politik und einer scheinbar von staatlichen und ideologischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen freien Privatheit in Kraft. Mit Birgit Sauers Arbeiten zur Wirkmächtigkeit dieses liberalen Trennungsdispositivs wird deutlich, wie das Wechselspiel öffentlich-privat zur Aufrechterhaltung des bürgerlichen, kapitalistischen und patriarchalen Staates beiträgt. Bargetz schärft Sauers Konzept und fasst es als komplexes Dispositiv, das auch heteronormativ und heteronormierend wirkt und „als rassisierte, klassisierte und (neo-)koloniale und damit über Geschlecht hinweg als multiple und komplexe Trennung“ (78) kritisiert werden muss. Auf dieser Basis thematisiert ihr feministischer Begriff des Politischen die politische Wirkmacht von Zugehörigkeit, Marginalisierung, Grenzziehung und Hierarchisierung und eröffnet so neue Orte des Politischen. Er fasst Politik als kollektiven Prozess und als Praxis, über die die Subjekte in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden sind. Die Autorin streicht den Modus politischen Eingreifens, Handelns und Entscheidens hervor und richtet damit den Blick auf das Verhältnis zwischen Rationalität, Emotionalität und Interessen. Ihr Politikbegriff umfasst eine Kritik der Bedingungen, Mechanismen und Wirkweisen von Politik und Politiktheorie.

Ein Einblick in den Alltag als Denkfigur (Kap. 3) diskutiert die alltagstheoretischen Ansätze Henri Lefebvres, Agens Hellers und Lawrence Grossbergs. Im Zusammendenken mit feministischen Debatten macht Bargetz Alltag als „Modus der Machtausübung“ und „als Potenzial (…) politischen Widerstands“ (35) verständlich und arbeitet die zentralen Elemente ihrer kritischen politischen Theorie des Alltags (Kap. 4) heraus. Dafür macht sie Lefebvres Konzept der Ambivalenzen stark: die repetitiven Tätigkeiten des Alltags geben über den Modus der Eingewöhnung Sicherheit und Handlungsorientierung, können zugleich aber auch Herrschaftsförmigkeit reproduzieren. Gesellschaftliche Widersprüche werden ins Alltagsleben übersetzt und treten hier als spezifische Ambivalenzen des Alltags hervor, erklärt Bargetz und umreißt die Funktionsweisen des Alltags. Mit Grossberg zeigt sie etwa, dass sich Hegemonie „in Praxen der Zustimmung“ manifestiert, „die nicht nur durch Einsicht, sondern auch über Affekte hervorgerufen“ (204) werden. Die affektive Eingebundenheit von Subjekten in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eröffne daher „Alltag als Zielobjekt und Instrument von Kritik“ (192).

Um das Politische alltagstheoretisch zu denken (Kap. 5) konzeptualisiert die Autorin „Ambivalenzen als Moment und Modus gesellschaftlicher Prozesse“ (212) und legt schließlich das gegenwartspolitische Interventionspotenzial ihrer Theorie dar. Ambivalenzen verweisen auf die Relationalität von machtvollen Trennungen. Diesen „Modus wechselseitiger Verwiesenheit“ (213) sichtbar zu machen, zeigt, wie und in welchen Macht- und Herrschaftszusammenhängen unterschiedliche Trennungen wirkmächtig werden (z.B. die Trennung und Hierarchisierung von Produktions- und Reproduktionsarbeit). Politik begreift Bargetz mithin als situiert und ambivalent verwoben. Unter dem Schlagwort „Politik der Affekte“ skizziert sie eine affekttheoretische Fassung des Politischen und fragt, wie Politik über Gefühle regiert und wie Gefühle „als Irritation hegemonialer Gesellschafts- und Gefühlsordnungen und mithin als Motor emanzipativen und (…) solidarischen politischen Handelns“ (250) wirksam werden können.

Das Buch erweist sich in mehrfacher Hinsicht als äußerst erhellend. Bargetz arbeitet die (z.B. in der Wissenschaftsforschung) vielfach vorausgesetzte Prämisse, dass Alltagspraktiken politisch sind, durch ihr intensives Ineinanderlesen von unterschiedlichen Theorien gekonnt auf. Sie schafft es, das Relationale - das in Praxen, Gefühle und Bedürfnisse eingelassene Wirken von Macht- und Herrschaftsverhältnissen - über ihr Konzept der Ambivalenzen analytisch auf vielschichtige Weise und in einer beeindruckenden Komplexität zugänglich zu machen. Sie zeigt einerseits, welche Perspektiven sich auftun, wenn eine kritische Gesellschaftstheorie vom Alltag ausgeht. Andererseits gelingt ihr mit ihrer kritischen politischen Theorie des Alltags eine Neuausrichtung des Politischen. Auf diese Weise wendet sie ihr Konzepte mehrfach, was ein tieferes Verständnis der Wirkweisen der Ambivalenzen des Alltags erschließt. Ihre dichte Theoretisierung bleibt durch einen präzisen Schreibstil und pointierte Zusammenfassungen dennoch gut nachvollziehbar. Auch im Hinblick auf Bargetz‘ weiterführende Arbeiten zu einem affekttheoretischen Machtverständnis sehr lesenswert!

Erstabdruck der Rezension in Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 1/2018, http://www.femina-politica.de/inhalte/angriff.html

Bargetz, Brigitte, 2016: Ambivalenzen des Alltags. Neuorientierungen für eine Theorie des Politischen. Bielefeld: transcript Verlag. 294 S., ISBN 978-3-8376-2539-4.

Das Buch kann hier für 29,99 € bestellt werden!


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