Rezension "Die Muschelsammlerin" von Charlotte Richter

28.02.2020 08:31

Mit dem Buch "Die Muschelsammlerin" hat Charlotte Richter einen ganz besonderen Fantasyroman geschaffen. Die Story ist absolut neu - etwas in dieser Richtung habe ich bisher noch in keinem anderen Fantasy-Roman gelesen.

In der Welt von Amlon bekommt man seinen Seelenpartner (=Spiegelseele aus dem Lande Nurnen)  am Tag der Verbindung durch die Priester*innen zugeteilt. Niemand darf sich selbst aussuchen, wen er lieben möchte. Liebschaften, die vor diesem Tag entstehen, werden einfach beendet. Die 'Spiegelseele' wird als perfekte Ergänzung zu einem selbst betrachtet und es wird geglaubt, dass nur der Spiegelpartner einen so akzeptieren kann, wie man ist, ohne Konflikte oder Zweifel. Auch die Protagonistin Mariel wartet deshalb sehnsüchtig auf ihre große Liebe. Doch nicht für alle gibt es einen Seelenpartner - und so bleibt Mariel am Tag der Verbindung allein.
 
Wer ohne Spiegelpartner ausgeht, gilt in Amlon als "sonderbar" - und so werden Mariel und die restlichen "Sonderbaren" auf eine Insel gebracht, wo sie ab nun ihr Leben fristen sollen. Angeblich sind Sonderbare neidisch auf Menschen mit Spiegelseelen, und deshalb möchte man sie in Amlon nicht haben, damit auch ja keine Konflikte entstehen. Auf der Insel gibt es keinen Luxus wie in Amlon, man lebt in baufälligen Hütten und schwere Arbeit steht an der Tagesordnung. Mit den Sonderbaren möchte aus Amlon niemand etwas zu tun haben, sie gelten als unrein. Wer auf der Insel landet, sieht seine Familie nie wieder, ist abgeschnitten vom Rest der Welt. Amlon erinnert damit an eine Sekte, die sich dem Weg der Reinheit und Erleuchtung verschrieben hat und alles Dunkle, Negative und Konfliktbelastete nicht sehen will und aus ihren Reihen verbannt.

Eine Möglichkeit, die 'große Liebe' zu finden, gibt es allerdings noch: Man reist selbst ins Reich der Träume (= das Land Nurnen) und sucht dort den Partner, der den Weg nach Amlon nicht gefunden hat. Doch die Reise ist gefährlich und fast alle, die diese angetreten haben, haben dieses Wagnis mit ihrem Leben bezahlt. Mariel und 4 weitere Jugendliche treten die Reise trotzdem an. Die starken aktiven Rollen werden dabei von zwei Frauen übernommen, die Männer spielen in diesem Buch eher eine Nebenrolle. Eine davon ist Mariel. Ihr Ziel ist es, ihre Spiegelseele zu finden, da sie sich nach jemandem sehnt, der sie so akzeptieren kann, wie sie ist. Sie hält sich selbst nicht für schön oder liebenswert. Im Gegensatz zu den anderen Mädchen in Amlon malt sie Bilder, die nicht der 'Norm' entsprechen: Muscheln, die fehlerhaft sind. Sie zeigt damit auch dunkle und 'missgestaltete' Aspekte, aber damit darf man sich in Amlon nicht befassen - hier soll immer alles harmonisch sein. Die andere wichtige Rolle spielt die rothaarige Rebellin Tora, die bereits in Amlon keine Grenzen kannte, für die Gewalt eine Lösung ist, und die das System stürzen möchte. Ihr Verhalten würde in unserer Kultur als typisch männlich interpretiert, und auch in Amlon und später auf der Insel stößt ihre Rebellion auf wenig Gegenliebe. Tora will aber nicht akzeptieren, dass die Priester*innen bestimmen, wer auf die Insel muss und weshalb man dort so schlecht behandelt wird, nur damit in Amlon alle ohne Sorgen und Probleme leben können.

Auf der Reise durch Nurnen müssen sich alle ihren größten Ängsten stellen. Die größten Feinde auf dieser Reise sind die eigenen Selbstzweifel, die fehlende Akzeptanz des eigenen Ichs und traumatische Erfahrungen aus der Kindheit. Auf ihrer Reise durch das Land der Träume lernen die Jugendlichen viel über sich selbst - und müssen auch lernen, mit Verlust und Misserfolgen umzugehen. Doch dann verliebt sich Mariel in einen ihrer Reisegefährten - eine Liebe, die auf dieser Reise ein Todesurteil für beide sein kann. Denn wer nicht offen für seinen Spiegelgefährten ist, kann diesen auch nicht finden - und ohne Spiegelseele gibt es keine Rückkehr nach Amlon, denn das Tor zwischen den Welten kann nur jeder mit seiner eigenen Spiegelpartner durchschreiten. Auch die Zeit in Nurnen ist begrenzt und wer dort zu lange bleibt, wird unweigerlich sterben.

Ich kann dieses Buch nur absolut empfehlen, es reißt Leser*innen von der ersten Seite an mit. Man kann das Buch kaum aus der Hand legen und durch seine Individualität hebt es sich total von anderen Fantasy-Romanen ab. Trotz der fiktiven Welt gibt es durchaus erschreckende Parallelen zu unserer Welt. Die Verbindung mit den Spiegelseelen ist mit arrangierten Ehen vergleichbar. Und auch in unserer Kultur wird man noch immer schräg angesehen, wenn man keinen Partner gefunden oder keine Kinder hat. Schnell wird einem vom sozialen Umfeld oder in Ratgebern unterstellt, selbst dafür verantwortlich zu sein, weil man nicht offen genug für einen Partner ist, mit sich selbst nicht im Reinen etc. Als Frau wird man zuätzlich noch automatisch mit dem Rollenbild Ehefrau und Mutter verknüpft und suggeriert, dass nur heterosexuelle Liebe und Mutterschaft zu einem erfüllten und glücklichem Leben führen. "Anders sein" und gegen Stereotypen verstoßen wird leider auch heute auch in unserer Gesellschaft häufig noch als Problem gesehen. Amlon verbannt die Menschen, die nicht ins Raster passen, einfach auf eine Insel, in unserer Welt passiert der Ausschluss auf viel subtileren Ebenen.

Corinna, 34 Jahre, liest am liebsten Fantasy und Liebesromane. Sie interessiert sich auch sehr für Fotografie und schreibt in diesem Bereich auch Rezensionen für Sachbücher.

Das Buch kann hier für 18,00 € bestellt werden!


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